Kassel und kein Ende
von Georg M. Sieber
Kassel beherrschte über eine Woche das Feuilleton. Empörendes wurde gemeldet: Verantwortliche der "Fünftzehnten Documenta" verantworteten angeblich, dass Antisemitisches in die Ausstellung geriet. Daran stimmte nicht wirklich alles.
Denn "Schuldige" gab es nur als Kollektiv - sozusagen in Kommun-Verantwortung. Das bedeutet: für diesen Fall gab es keine tatsächlichen Zuständigkeiten und keine Befugnisse. So wurde denn munter drauflos geschimpft.
Die Empörten holten weit aus. Sie erweckten den Eindruck, zwei riesige antisemitische Abbildungen seien den Besuchern aufgedrängt worden. In Wirklichkeit hätte man zwei kleinformatige Cartoons ("Elemente") in einem überdimensionalen "Wimmel"-Bild entdecken müssen. Es wurde nicht einmal klar, was die Bildchen sagen sollten. Gedacht waren sie allenfalls als Mahnung und Erinnerung an den europäischen "Antisemitismus", den man ursprünglich und frühestens bei der Missionierung der indonesischen Inseln den Vorfahren der nun präsentierten Künstler übergestülpt hatte.
Das Problem begann hierzulande um 1800 ff mit einer seltsamen Namensgebung für Verunglimpfungen gegen Jüdisches in Worten, Liedern, Bildern und Skulpturen: Antisemitismus. Das Wort ist außerhalb Europas nicht allgemein bekannt. "Semitismus" allein stand und steht für ein hohes Ideal in der arabischen Welt nach dem Vorbild von SEM, ältester Sohn des alttestamentarischen Noah. Ganz anders als seine unguten jüngeren Brüder brachte Sem dem Vater absolute Rücksicht und Hilfsbereitschaft entgegen. Zahlreiche Stämme und Völker der arabischen Welt bezeichnen sich deswegen noch heute stolz als die wahren Nachkommen des Sem - kurz "Semiten".
Die immanente Herabsetzung in Wort und Begriff "Antisemitismus" war durchaus gewollt und gezielt. Die Verarbeitung ist wohl maßgeblich Friedrich Marr (1819-1904) zuzurechnen. Er profilierte sich damit in Marburger Salons und soll wiederholt diese Wortschöpfung mit seinem Widerwillen gegen das Wort "Jude" begründet haben. Dass er damit die semitischen Völker und Stämme beleidigte, ist jedenfalls plausibel. Die Quelle seines Widerwillens ist nur unzureichend belegt. Die Erfahrungen der Europäer mit maurisch-arabischen Wunderwerken und überlegener Rechenkünste, aber auch das christliche Kirchenverbot von Zinsgeschäften, könnten eine Rolle gespielt haben.
Ob die Reaktionen der Documenta-Kritiker angemessen oder doch zumindest verhältnismäßig waren, sollte einer wissenschaftlich-empirischen Untersuchung der Zusammenhänge vorbehalten sein. Könnten die inkriminierten Cartoon-Elemente in prüfbarer Weise dominant wirken? Waren die ausstellenden Künstler über die hiesigen Angriffs- und Verteidigungsgewohnheiten informiert? Kannten sie die Leiden der Millionen Opfer vor, während und nach der Herrschaft des Hitlerstaates? Hatten diese Künstler möglicherweise eine persönliche Judenfeindlichkeit entwickelt? Welche Bedeutung hatten rigorose Verhaltenszwänge im Wettbewerb der Staatslehren, Weltanschauungen und Religionen?
Mit der Sicherung der historischen und zeitgeschicht-lichen Zusammenhänge bietet sich vielleicht die Möglichkeit, auch die Kenntnisse und die Erfahrung der eindrucksvollen Documenta-Kritiker zu evaluieren.
So erscheint es doch einigermaßen seltsam, dass der "Antisemitismus" wie eine mentale, psychische Störung thematisiert wird. Dabei wäre doch wohl zuvor zu klären gewesen, mit welchen Kompetenzen die indonesischen Künstlergäste in die Nähe dessen gedrängt wurden, was im diplomatischen Verkehr eine persona non grata genannt wird.
Schlussendlich ist hier daran zu erinnern, dass die Nachsilben "-is-mus" in der Regel eine Werthaltung derjenigen kennzeichnen, die den oder die jeweiligen Werte in wahnhafter Steigerung zu vertreten oder zu verteidigen bereit sind. Keineswegs zufällig finden sich Wörter mit den Nachsilben "-is-mus" häufig in politischen und psychiatrischen Zuweisungen. Sie haben durchwegs Schimpfwortqualität. Insbesondere im Bereich der Medizin fällt auf, dass Diagnosen wie ´Narzissmus´ kaum jemals objektiviert werden müssen. Der ´Dilettantismus´ dieser selbsternannten "Experten" zeigt sich in ihrem unbefangenen Gebrauch der Nachsilbe "-ismus", wenn ihnen "-manie" oder "-sucht" allzu altmodisch erscheinen.
Im Bereich der Politik hingegen scheint das einfacher zu sein. Der Hellenismus z.B. ist im Bedarfsfall so leicht zuzuordnen wie der Kommunismus oder der Sozialismus - schon wegen der bloßen Menge längst abgenutzter Begriffe.
Zur Zeit der großen Proteste gegen die Atomkraft wehrten sich deren Protagonisten gegen unbotmäßige Schülerhorden mit dem altväterlichen Rat: "Erst mal informieren - dann diskutieren." Das sollten wir den Kasselanern in Stein meißeln.
2022 Wiesbaden
Unser Autor
Georg M. Sieber, Jahrgang 1935, ist Diplompsychologe in München. 1964 gründete er sein Institut für Angewandte Psychologie, die Intelligenz System Transfer GmbH (11 Niederlassungen). Sein persönliches Interessengebiet sind Schriften historischer Vorläufer der heutigen Psychologie, de Federico II., Machiavelli, Palladio, Ínigo López de Loyola u.a.
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