Arbeitsalltag eines Staatsanwalts
Peter Boie
Strafrechtsfälle – damit beschäftigt sich bekanntermaßen ein Staatsanwalt (oder eine Staatsanwältin, die im Folgenden der Lesbarkeit zum Opfer fällt). Das Spektrum ist groß, ob Diebstahl eines Lippenstiftes, Verkauf von 10 kg Kokain oder Mord, alles landet beim Staatsanwalt. Wie der Berufsalltag aussieht, hängt entscheidend davon ab, für welche Delikte ein Staatsanwalt zuständig ist. Eine komplexe Wirtschaftsstrafsache muss natürlich völlig anders bearbeitet werden wie ein Einbruchdiebstahl. Bei kleineren Staatsanwaltschaften hat ein Staatsanwalt eine größere Bandbreite zu bewältigen, bei großen Staatsanwaltschaften ist die Spezialisierung sehr hoch.
Ein Beispielsfall aus dem Bereich der schweren Kriminalität in Stichworten: Ein Konditormeister verschwindet spurlos. Eine blutdurchtränkte Matratze aus seinem Haus in München deutet auf ein Tötungsdelikt hin. Eine Person aus dem Umfeld des Opfers gerät in Verdacht, weil sie Streit mit dem Konditormeister wegen finanzieller Fragen hatte. 10 Monate wird ohne konkretes Ergebnis ermittelt. Dann wird eine Überweisung des Konditormeisters auf das Konto einer Frau aus Hof überprüft. Die Frau und ihr Lebensgefährte werden befragt. Er will im fraglichen Zeitraum im Ausland gewesen sein, hat aber damals aus München Telefonate geführt. In seiner Wohnung findet man ein Radio aus dem Besitz des Konditormeisters. Er wird festgenommen, gesteht die Tat und gibt an, er habe die Leiche im Ausland vergraben.
Nach dem Gesetz hat der Staatsanwalt, sobald konkrete Tatsachen auf eine Straftat hindeuten, die Verantwortung dafür, dass das Geschehen in rechtmäßiger Weise aufgeklärt, rechtlich richtig bewertet und der Täter vor Gericht gestellt oder das Verfahren eingestellt wird. Der größte Teil der Fälle kommt in Form von Anzeigen entweder über die Polizei oder direkt von Privatpersonen oder Rechtsanwälten auf den Schreibtisch des Staatsanwalts. Da es innerhalb einer Staatsanwaltschaft - außer den Staatsanwälten - für die Arbeit am Fall kein Personal gibt, muss er den größten Teil der Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei überlassen. Die Zusammenarbeit mit der Polizei ist - neben der Arbeit vor Gericht - einer der prägenden Faktoren der Arbeit des Staatsanwalts. Er ist gegenüber der Polizei sachlich weisungsbefugt, nicht aber der Vorgesetzte des einzelnen Polizeibeamten.
Im Beispielsfall war es Aufgabe des Staatsanwalts, sich am Tatort, durch Mitwirkung an wichtigen Vernehmungen, Gespräche mit den ermittelnden Polizeibeamten, und die Auswertung aller schriftlichen Ermittlungsergebnisse umfassende Informationen zu beschaffen. Er musste diese Informationen rechtlich bewerten – also zum Beispiel festlegen, dass der Verdacht auf ein Tötungsdelikt bestand - und gemeinsam mit der Polizei entscheiden, welche weiteren Schritte, wie zum Beispiel Durchsuchungen oder Telefonüberwachungsmaßnahmen, erforderlich und zulässig waren, um den Fall zu klären.
Er musste die Verdachtsmomente, die zunächst gegen eine Person aus dem Umfeld des Opfers bestanden, gewichten und entscheiden, ob sie ausreichten, diese in Untersuchungshaft zu nehmen oder anzuklagen. Nach Ermittlung des Tatverdächtigen in Hof war es u.a. seine Aufgabe, den bekannt gewordenen Tatablauf rechtlich als Mord zu qualifizieren und einen Haftbefehl beim Richter zu beantragen. Im weiteren muss er sich darum kümmern, dass notwendige Gutachten, wie z.B. zur Schuldfähigkeit, rechtzeitig und bei geeigneten Sachverständigen in Auftrag gegeben werden. Im Beispielsfall muss er sich mit ausländischen Justizbehörden in Verbindung setzen und darum ersuchen, die Suche nach der Leiche des Tatopfers in die Wege zu leiten. Er hat dafür zu sorgen, dass alle notwendigen Maßnahmen möglichst rasch vorgenommen werden, besonders wenn sich der Beschuldigte in Untersuchungshaft befindet. Er legt auch fest, wann alles Erforderliche vorliegt, um den Fall vor Gericht zu bringen. Dann fasst er den Tatvorwurf in einer Anklageschrift zusammen.
Wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat, ist es vor einer Anklage Aufgabe des Staatsanwalts, über dessen Anträge, wie z.B. auf Akteneinsicht, zu entscheiden oder seine Rechtsmittel, wie z.B. eine Beschwerde gegen die Untersuchungshaft, zu bearbeiten bzw. an das Gericht weiterzuleiten. In geeigneten Fällen wird mit dem Verteidiger auch über die Strafe verhandelt. Was als „Deal“ lange Zeit rechtlich umstritten war, ist mittlerweile von der Rechtsprechung – unter bestimmten Voraussetzungen - gebilligt und in der Praxis etabliert und fordert das Verhandlungsgeschick des Staatsanwalts. Das Grundprinzip lautet dabei meistens: Strafnachlass gegen Geständnis.
In Fällen der kleinen und mittleren Kriminalität, die zahlenmäßig den größten Teil ausmachen, arbeitet die Polizei in der Regel völlig selbständig und legt erst das Endergebnis ihrer Arbeit der Staatsanwaltschaft vor. Der Staatsanwalt entscheidet dann, ob er noch weitere Ermittlungen in Auftrag gibt oder ob er das Verfahren einstellt oder Anklage erhebt. Solche Fälle sind typisch für das Arbeitsgebiet (als Referat oder Dezernat bezeichnet) in einem frühen Stadium der beruflichen Laufbahn und finden sich z.B. im Bereich der allgemeinen Kriminalität (Diebstahl, Betrug, Körperverletzung usw.) oder der Verkehrsstraftaten. Hier muss ein Staatsanwalt etwa 150 – 200 Verfahren in einem Monat bewältigen. Bei einem solchen Input ist es für seinen Erfolg nicht unwesentlich, dass er schnell und effektiv arbeitet und seinen Bestand nicht zu sehr anwachsen lässt. Ein Staatsanwalt muss entscheidungsfreudig sein.
Demgegenüber muss im Bereich der schweren Kriminalität, z.B. im Bereich von Kapitalverbrechen oder der Wirtschaftskriminalität, eine geringere Zahl von Fällen bewältigt werden, dafür ist teilweise sehr viel Material pro Fall zu verarbeiten und ziehen sich die Ermittlungen im Einzelfall über Jahre hin. Das erfordert einen langen Atem, Überblick und systematisches Arbeiten.
Im Durchschnitt nimmt ein Staatsanwalt an zwei Tagen in der Woche an Gerichtsverhandlungen teil. Den Rest seiner Zeit verbringt er im Büro bei der Aktenarbeit, an Telefon und PC. In unregelmäßigen Abständen kommen andere Termine dazu, wie z.B. die Teilnahme an größeren Durchsuchungsaktionen, Besprechungen mit Polizei, Rechtsanwälten, Sachverständigen und ähnliches. Eine weitere Anforderung kommt durch verschiedene Bereitschaftsdienste hinzu, die zum Teil außerhalb der Dienstzeit abzuleisten sind, beispielsweise eine Rufbereitschaft für Anfragen der Polizei. Die Abläufe vor Gericht sind durch die Strafprozessordnung stark formalisiert und der Richter hat das Steuer in der Hand, dennoch kann ein sachkundiger und aktiver Staatsanwalt Ablauf und Ergebnis einer Verhandlung maßgeblich beeinflussen.
Bei der Gestaltung der Ermittlungen hat er einen großen Spielraum. Er kann zum Beispiel festlegen, was er zuerst in Angriff nimmt, ob er zum Telefon greift oder schriftlich nachfragt, ob er etwas selbst macht oder die Polizei beauftragt usw.. Die oft angeführte Weisungsgebundenheit spielt in der Praxis kaum eine Rolle. Im Allgemeinen arbeitet ein Staatsanwalt sehr selbständig. Vorgesetzte haben auch die Rolle eines Beraters in Einzelfällen oder können einen Mitarbeiter bei weit reichenden Maßnahmen absichern. Der früher durchaus verbreitete autoritäre Führungsstil wird zunehmend durch einen kooperativeren Führungsstil ersetzt. Charakteristisch für die Arbeit bei der Staatsanwaltschaft ist die ausgeprägte Kollegialität. Der Arbeitsdruck ist hoch, die Arbeitsabläufe ähneln sich. Das fördert die gegenseitige Solidarität und erleichtert den Austausch. Erfahrene Kollegen können Dienstanfänger unterstützen und ihnen so den Einstieg erleichtern. Ein Problem für die Staatsanwaltschaften ist, dass die Personaldecke knapp ist und weitere Kürzungen drohen, während der Gesetzgeber gleichzeitig immer wieder neue Straftatbestände schafft und - wie auch die Rechtsprechung - die formalen Anforderungen an einzelne Ermittlungsmaßnahmen erhöht.
Peter Boie
Staatsanwaltschaft München I
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