Intoxikation durch Überdosierung von Digitalis
Derzeit teufelt es von allen Seiten auf den Deutschen ein: Ran an die Digitalisierung, unsere einzige Überlebens- und Stabilitätschance gegenüber den Digi-Großmächten. Wer hätte das gedacht? Die Initiative „Industrie 4.0“ wurde von der Physikerin Angela Merkel aus der Taufe gehoben?
Soviel Wow & Wumm für so wenig Neues gab es selten. Allerdings: Die Idee eines regierungsamtlichen Hightech-Projekts hat etwas Großes. Hunderttausende kleiner und mittlerer Betriebe im Reich des Exportweltmeisters würden jetzt ihre Hightech-Produktion digital aufrüsten, den Digital-Lieferanten Milliardenumsätze bescheren und damit die weltweiten Schalt- und Steuertechnik-Konzerne zu bis dahin ungeahnten Kursentwicklungen antreiben. Zukunft: Made in Germany 4.0.
Da Betriebseigentümer der KMU-Klasse (Mittelständler?) an einer Ego-Schwäche zu laborieren scheinen, taufte man die grandiose Aktion auf das supercoole „Industrie 4.0“. Wer nämlich bisher so gläubig das Etikett „Mittelstand“ poliert und getragen hatte, der würde doch jetzt gewiss auch gern zur „Industrie 4.0“ zählen wollen. Dieses Kalkül indessen ging nicht auf. Nur wenige Digitalisierungsangebote erschienen den Zielpersonen wirklich neu zu sein oder wirtschaftlich interessant. Ihre Skepsis illustriert das häufig zitierte Beispiel eines Rasierklingensets, das nach Verbrauch die Nachschubsendung beim Hersteller auslöst…
Die erhoffte, digitale „Vernetzung“ kam also nicht so wie versprochen voran. Immerhin lebt die Hoffnung, unter dem gemeinsamen Trommelfeuer der gedachten Gewinner werde sich der Knoten eines Tages von selber lösen: Tür und Schrank mit einer biometrischen Schließtechnik? Der automatische Single-Kühlschrank mit Einkaufslogik? Das abendliche TV-Programm mit dem Lieblingsdarsteller? Die sich selber optimierende Wohnungssteuerung mit Lüftung, Heizung, Briefkasten- und Telefonbedienung? Und der fahrerlose PKW? Der Stiftzahn, der im Bedarfsfall einen Zahnarzttermin vereinbart? Ist das denn digital?
Das lateinische digitus, der Finger/die Zehe, wurde lässig von den Werbesprachlern adoptiert, um die Nutzung der Leibniz’schen Zählidee mit „0/1“ greifbarer zu machen. Seit der alte Al-Quarismi um 900 n.Chr. die Lehre von der Ziffer Null verbreitete, hatte es keinen so radikalen Umbauplan im Dienste eines neuen Zahlensystems gegeben. Die römischen Zahlen gerieten auf Nebenschauplätze, die arabischen wurden ab jetzt besonders gehätschelt.
Die „0/1“-Methode, die man erst im vorigen Jahrhundert in der kurzen Lochkarten-Epoche (Hermann Hollerith!) zu schätzen gelernt hatte, galt den halbwegs Gebildeten aber keineswegs als neu. Nahezu dankbar hörte man daher von dem deutschen Ingenieur Hermann Zuse, der die praktische Zählidee tiefer durchdacht und daraus nach und nach mit raffiniertester elektronischer Schalt-technik neues Zähl- und Rechengerät für alle nur denkbaren Anwendungen entwickelt hatte. Unter der Bezeichnung Computer (West) oder Rechner (Ost) erlösten uns Zuses Geräte schon bald von der Fron umständlichster Rechnerei.
Marketing-Gurus schwärmten damals vom Computerzeitalter und schwärmen auch jetzt gleich wieder von einem Digitalisierungszeitalter. Da soll also ein neues Zeitalter angebrochen sein – dank einer „digitalen Revolution“, die die Tore zur „Digitalwirtschaft“ aufgesprengt haben soll. Da dreht sich alles um ein „digitales Plus“, das seinesgleichen sucht: ein Merkmal wird an einem Objekt verortet, per Sensor identifiziert, umgehend elektronisch versendet und am Zielort beantwortet - tunlichst wiederum elektronisch.
Die zündende Idee steckt natürlich nicht in der Digitalisierung. Sie liegt unzweifelhaft in der „Sensorisierung“. Es gab gewiss schon geringfügigere Anlässe dafür, ein neues Zeitalter auszurufen.
Und wo bleibt jetzt die Digitalisierung? Das Wort wurde inzwischen inflatorisch und mit ungehemmter Synonymisierung in den Werbesprech gedrückt. Die Folgen sind schwerwiegend: Sprachsensible Zeitgenossen zeigen bereits erste Symptome der Digitalintoxikation. Sie beginnt meist mit Appetitlosigkeit und Erbrechen, später treten Sehstörungen (Gilb) hinzu, Mydriasis und Halluzinationen. Schließlich kommt es zum Delir, oft auch zu bedrohlichen Herzrhythmusstörungen und Kammerflimmern. All das meldet der brave Pschyrembel. Keine schönen Aussichten.
Unser Autor
Georg M. Sieber, Jahrgang 1935, ist Diplompsychologe in München. 1964 gründete er sein Institut für Angewandte Psychologie, die Intelligenz System Transfer GmbH (11 Niederlassungen). Sein persönliches Interessengebiet sind Schriften historischer Vorläufer der heutigen Psychologie, de Federico II., Machiavelli, Palladio, Ínigo López de Loyola u.a. Für den fachlichen Austausch steht er gerne zur Verfügung: 089 / 16 88 011 oder per eMail