Mitarbeit in der Kanzlei?

In der gängigen Kanzlei (wörtlich in etwa „Gebälk“) sind weniger als fünf Arbeitnehmer beschäftigt. Es gibt deswegen keinen Betriebsrat. Sie wird recht uncharmant als „Kleinstbetrieb“ klassifiziert. Der Inhaber und Chef (wörtlich „Kopf“) bewältigt sein Tagespensum mit einer Vollzeit- und einer Halbtagskraft. Deren Kosten rechnen sich mit einem zweiten Juristen (meistens etwas) günstiger. Wenn die Kollegen ein gutes timing schaffen und sich nicht aufwändig bedienen lassen, reichen anderthalb Bürokräfte. Erst mit einem dritten Juristen würden zwei Voll­zeit­kräfte aus­ge­lastet. Soweit die Theorie. 

In der Reali­tät ist alles ganz anders. Da wird die Kapazi­tätsplan­ung zum Glücks­spiel. Die eine Voll­zeit­kraft bei­spiels­weise geht es kalkulator­isch an und bremst ihre Kollegin auf das eigene Tempo her­unter. Da muss dann schon bald eine zweite Halb­tags­kraft her not­falls auch ein AZUBI. In einem anderen Fall ist der Chef selber ein Umstands­krämer und über­dies ein Kontroll­freak. Auch in diesem Fall reichen 1,5 Büro­kräfte nicht es hagelt Mehr­arbeit und Über­stunden. In einem dritten Fall sind sich die beiden Büro­kräfte nicht grün und machen sich gegen­seitig Arbeit. Wenn dann noch ein lahmen­der weiterer Jurist hin­zu­tritt, wird es end­gültig eng. Wahr­schein­lich gibt es 1001 Konstellationen, in denen die Kapazitäts­formel des Kleinst­betriebs 2: 1,5 nicht auf­gehen will. Das Problem der Kanzlei­szene liegt darin, dass die perso­nellen Unwäg­bar­keiten des Kleinst­betriebs hart­näckig sind. Und sozio­technisch sind die mittel­großen und sogar große Kanzleien oft nur eine Addition von Kleinst­be­trieben.






Da wundert es nicht, wenn ein Kanzlei­chef die Idee ver­folgt, er müsse wirklich leist­ungs­starke Büro­kräfte finden. Ge­sucht wird eine Art Kanzlei-Tarzan im weiten Feld all der Anwalts­ge­hilfen, Be­triebs­wirte, Sekretär­innen und Buch­halter (jeweils m/w!). Auch an Be­werb­ungen ist meistens kein Mangel. Man exegiert also Zeug­nisse und Lebens­läufe, brütet über der Hand­schrift und der (Foto-) Mimik, denkt sich Probe­diktate und Schreib­muster aus, übt inves­ti­ga­tive Ge­sprächs­techni­ken, kontak­tet etwaige Referen­zen und sucht das Heil zu­weilen sogar in der Astro­logie oder in speziellen Eign­ungs­tests.

Aber leider: das künft­ige Leistungs­verhalten in Zweier- oder Dreierbezie­hungen ist trotz aller gut­gemeinter Metho­den nicht einmal annäh­ernd vor­her­sag­bar. (Vor­her­sagen lässt sich allen­falls das Chef­ver­halten unter Leist­ungs­druck.

In einem unter­besetz­ten Büro schiebt er Droh­kulissen, dilet­tiert mit Prämien und zündelt unter den Mit­arbei­tern. Im überbesetzten Büro macht er per­io­dischen Wirbel, lamen­tiert täg­lich über frisch ent­deckte Miss­stände oder Fehler und pro­klamiert „Ein-und-für-alle-Mal“ Regeln für sein kleines Reich.) Für die Per­sonal­auswahl im Kleinst­betrieb gibt es sehr viele gute Ratschläge, aber nur sehr wenige brauch­bare Vor­gehens­weisen.

Immer­hin findet man in Ver­gleichs­studien durch­aus typische Merk­male in und an effizienten Kleinst­be­trieben. Ob nun Arztpraxis oder Ingenieur- und Architek­tur­büro, Werbe­ge­stalter, Augen­optiker und Hör­geräte­akustiker, Steuer­berater oder eben Anwalt die Mit­arbeiter er­folg­reicher Kleinst­be­triebe haben inte­ressante Gemein­sam­kei­ten. Sie wohnen häufig in der direkten Nach­bar­schaft, sind am PC wie am Telefon fit und schätzen den Beruf ihres Chefs als ihren Wunsch­beruf.

Ihr Privat­leben ist meist eher beschwer­lich den Betrieb erleben sie als Hort von Sicher­heit und Ordnung. Sie haben bereits nach kurzer Zeit ein selbständiges Tätig­keits­gebiet für sich ent­deckt, für das sie sich dann besonders enga­gieren. Fehl­zeiten und psychische Auf­fällig­keiten liegen deut­lich unter dem Landes­durch­schnitt.  

Daraus lassen sich ein­fache Schlüsse ziehen für die Aus­wahl von Kanzlei­mit­arbeitern: Wohn- und Arbeitsort liegen nahe bei­einander? Das hat erste Priorität. Die Er­fahrung zeigt nämlich, dass ab 15 Minuten ehrlicher Wege­zeit jede weitere Minute an der Leist­ungs­bereit­schaft nagt. Die Wege­zeit läßt sich leicht abschätzen. Noch hohe Priorität: Telefon­fertig­keit.

Um das her­aus­zu­finden tele­fon­iert man mit­ein­ander ein Anwalt kann pro­blem­los fest­stellen, ob die Person am Tele­fon ein­iger­maßen gewandt und an­gemessen sprechen kann. Nur wenn Wege­zeit und Telefon­auf­tritt stimmen, ver­ab­redet man den Vor­stell­ungs­termin mög­lichst kurz­fristig und locker, aber mit präziser Uhr­zeit.

Zur Vor­be­reitung kann man eventuell ver­fügbare Unter­lagen zur Be­werb­ung durch­sehen. Meistens bringt das wenig, weil solche Unter­lagen ein­schließlich der Texte wenig über das reale Leistungs­ver­halten der Person aus­sagen. Führer­schein? Das bringt immer­hin einen Plus­punkt. Dann kommt schon der große Augen­blick. Erster Ein­druck? Jeden­falls sollen Kleidung und Frisur zu Be­trieb und Um­geb­ung passen. Das lässt sich per Augen­schein be­ur­teilen. Zum Probe­schreiben stehen der PC und ein hand­schrift­licher Muster­text zum Ab­schrei­ben be­reit. Wo noch viel per Gerät diktiert wird ein 5-Minuten­text in ge­wohn­ter Ge­schwin­dig­keit ist spontan ab­ruf­bar. Sehr gute Ein­blicke er­mög­licht schließlich die „Auf­räum-Auf­gabe“: Ein Schreib­tisch wird mit 20 Utensilien bestückt, die, nun ja, auf­zuräumen sind. Da bekommt der künft­ige Chef un­mittel­bar Einiges mit über Auf­gaben­ver­ständnis, Arbeits­tempo und sogar Selbst­sicher­heit. Er kann nämlich Ein­wend­ungen dazu erheben und re­gis­trieren, wie die Person mit Kritik um­geht.

 

Viel mehr kann man mit gesundem Menschen­verstand und bloßem Auge nicht klären. Für eine „Stellen­beset-      z­ung“ muss man normaler­weise 5 bis 10 Be­werb­ungen durch­stehen. Pro Person sind - siehe oben - nur sieben Merk­male zu er­fassen, von denen immer­hin fünf eine Be­wert­ung er­for­dern. Pro „Fall“ plant man eine Präsenz­stunde. Für das ab­schließen­de Ur­teil braucht man nur eine Viertel­stunde und gleich danach auch etwas Mut. Denn der Be­werb­ungs­be­scheid will sofort und ohne Um­stände er­teilt sein. Für alle Fälle liegt auch der Arbeits­vertrag schon bereit.

Alles Weitere klärt sich in den Ein­arbeitungs­wochen der Probe­zeit. Natür­lich gibt es an­spruchs­vollere Aus­wahl­verfahren. Die kosten zwar mehr Zeit und im Schnitt andert­halb Monats­gehäl­ter, bieten aber keines­wegs mehr Sicher­heit. Denn das Leistungs­verhalten eines Mit­arbeiters im Kleinstbetrieb spiegelt auf Dauer ganz über­wiegend die Grenzen und Mög­lich­keiten des Chefs. Das wusste man schon zu Zeiten des alten Knigge: „Ein weicher Patron hat dreiste, ein harter Patron hat tumbe Knechte.“ Aus den Knech­ten sind in der heu­tigen Kanzlei längst kluge und leist­ungs­starke Arbeit­nehmer ge­worden. Bloß der weiche und der harte Patron, die sind ge­blie­ben und brauchen doch beide Mit­arbeit in der Kanzlei.

Unser Autor 





Georg M. Sieber, Jahr­gang 1935, ist  Diplom­psycho­loge in München. 1964 gründete er sein Institut für An­ge­wandte Psycho­logie, die Intelligenz System Trans­fer GmbH (11 Niederlassungen). Sein per­sön­liches Inte­res­sen­gebiet sind die Schrif­ten his­tor­ischer Vor­läufer der heu­ti­gen Psychologie, de Federico II., Machiavelli, Palladio, Ínigo López de Loyola u.a.

Für den fachlichen Austausch steht er gerne zur Verfügung: 089 / 16 88 011 oder per eMail:

Georg.Sieber [at] IST-Muenchen.de

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