Wörter-Zirkus

Georg M. Sieber

Das Wort des Jahres wird es mal wieder in sich haben. Die SZ hatte ihren Feuilletonisten Wolfgang Janisch schon vor dem Reformationstag auf die Jagd geschickt. Würde er uns nur ein unerwartet häufiger gewordenes Wort auftischen? Oder doch ein frisches Neuwort, das die gebildetere Leserschaft einen Neologismus nennen dürfte? Oder doch besser ein geflügeltes Wort wie das „Wir schaffen das!“ der Kanzlerin oder höchst hilfsweise das „Basta!“ ihres Vorgängers, das eine ultimative Entscheidung ankündete? 

Es gibt keine DIN*, die so ein „Wort des Jahres“ zu erfüllen hätte. Janisch setzt auf die bloße Worthäufigkeit, die ihm das SZ-Archiv vorzählen kann: als Haupt- oder Eigenschaftswort kam sein Fund 2019 von Januar bis September wohl 179 Mal vor, im gleichen Kalenderabschnitt 2020 dagegen 479 Mal. So bejubelte er denn die „Karriere der Verhältnismäßigkeit“. Aber vielleicht war die Worthäufigkeit einfach dem aktuellen Pressesprecherdeutsch geschuldet, das ja auf umstrittenes Verhalten der Polizei nahezu automatisch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit reimt. Tatsächlich berichteten die Medien in 2020 weltweit über besonders viele ebenso maß- wie glücklose Polizeieinsätze in den USA, in Hongkong, Belarus, Iran, Türkei und, und, und …. . Rechtlich interessierten und vorgebildeten Medienarbeitern hätte auffallen können, dass es in vielen dieser Ereignisse eigentlich um sträfliches Polizeihandeln ging und nur in zweiter Linie um Verhältnismäßigkeit. 


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Dass aber aus einer rechtswidrigen Dienstanweisung (z.B. des Innenministers) kein verhältnismäßiger Einsatz werden kann, wird nur selten reflektiert. Zuzugeben ist an dieser Stelle lediglich, dass eine von ganz oben gewünschte „Härte“ im Einsatz hinterher meist als angemessen, erforderlich, geeignet, verhältnis- und dann auch rechtmäßig gerechtfertigt wird.                        

Wie kommt es zum „Wort des Jahres“? Würde ein Meteorologe aus einer sehr hohen Niederschlagsmenge pro qm das Unwetter des Jahres ableiten? Würde er den Sommertag des Jahres anhand der Anzahl von Sonnenstunden ausrechnen oder lieber durch Addieren der Wassertemperaturen an den Stränden? Und braucht es für das Erdbeben des Jahres wirklich eine bestimmte Anzahl von Toten? 

Tatsächlich kann so etwas wie ein Wort des Jahres nur entstehen, wenn in den Redaktionen alle zusammenhalten, die das Sagen haben. Unser aktuelles Beispiel: Es ist noch nicht lange her, da ergoss sich plötzlich ein „Empathie“-Tsunami über praktisch jede TALK-Runde. Dass es sich um eine Art Synonym für Sympathie handelte, wurde nicht verraten. Eine junge Psychiaterin hatte dieses „Empathie“ unter dem Schutzschirm ihres fachlich weit übergeordneten leiblichen Vaters irgendwie ins Gespräch gebracht. In der ringsum aufschäumenden Begeisterung entging manchem Journalisten, dass dieses laut-malerisch anmutende Wort ein antiker Fund aus dem Vokabelheft des alten Claudius Galenos von Pergamon (129 n. Chr.) war.

Auch die psychoanalytischen Autoren an Englands Medizinkathedern führen immerhin die „Empathie“ fast unbemerkt als griechisches Lehnwort für sozusagen „Eingefühltes“. Empathie schaffte es aber nur vorübergehend zum Bekanntheitsgipfel. Die Begeisterung ließ nach, als man die Lexika dazu befragte.

Demgegenüber wurde deutsche „Nachhaltigkeit“ zu einem weltweit beachteten Dauersignal – für etwas Wertvolles und jedenfalls sehr Dauerhaftes aus und in Deutschland. Das lexikalische Verständnis nahm schon bei den ersten Auftritten erheblichen Schaden: Der Erstautor, ein königlich-sächsischer Forstbeamter, hatte den Bergbaubetrieben empfohlen, in den umliegenden Forsten pro Jahr nur jeweils so viel Bäume als Stempelholz zu entnehmen, wie im Jahr nachwachsen. Der Grubendirektor solle also seinen Holz-bedarf nachhaltend vorausplanen. Leider ist nicht überliefert, welcher Sprachschneider die Holzernte dann nachhaltig nannte und auch noch den nachhaltend geplanten Einsatz der Stämme als nachhaltig lobte. Er leitete jedenfalls einen irreführenden Bedeutungswandel ein: nachhaltig wurde beiläufig zum Synonym für „dauerhaft“ und sogar auch für „haltbar“.  

Odoo - Sample 2 for three columns

Ist also der Südtiroler Speck nachhaltig? Er ist es! Denn Millionen Deutsche können sich doch nicht so nachhaltig irren. Der Ausweg? Südtiroler Speck kann zwar nachhaltig geplant, aufgeschnitten oder probiert werden, kann aber eben nicht selber nachhaltig s e i n , weil nachhaltig im Sinne des Erstautors Carl von Carlowitz (1713) nicht adjektivisch zu verwenden ist. Es gibt also kein nachhaltiges Gerät, kein nachhaltiges Wetter oder nachhaltige Programme. Wohl könnte ein Plan, sogar auch eine regelrechte Strategie mit dem Prädikat „nachhaltig“ gepriesen werden. Gemeint ist aber nur ein kleiner Ausschnitt wirtschaftlichen Verhaltens: Bei nachhaltigem Abbau, Verbrauch oder nachhaltiger Nutzung wird immer nur so viel von einem Material (Holz, Wasser, Tier oder Pflanze) verwendet, wie es diese natürlicherweise selber nachbilden bzw. ersetzen. Holz- oder sonstige Landwirtschaft, Tierzucht oder sonstige Fleischwirtschaft s i n d eben nicht nachhaltig. Sie könnten allenfalls nachhaltig bewirtschaftet und sogar nachhaltig weiterentwickelt werden – was dann aber zu beweisen wäre, ob da nämlich wirklich etwas von selber nachwachsen wollte. Wem aber die Nachhaltigkeit allzu leicht von der Hand geht, der kann sich zumindest im green-washing der Konsumindustrie einen Namen machen.

Und nun zur „Verhältnismäßigkeit“: Der SZ-bewährte Wolfgang Janisch spöttelte da nämlich, es gebe Jurastudenten, die mitten aus dem Schlaf „die drei Elemente“ der Verhältnismäßigkeit „herunterrattern“ könnten: „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ [im engeren Sinne?]. Was denn nun? Ein unbestimmter Begriff wird für und von Jurastudenten wirklich durch drei weitere unbestimmte Begriffe erklärt? Etwas gemütlicher liest es sich in der geläufigeren Erklärung bei Wikipedia, Verhältnismäßigkeit bedeute, „… dass bei Eingriffen in persönliche Rechte, die im Falle eines öffentlichen Interesses als zulässig gelten, ein gewisses Maß gehalten wird ..." . 

 



Wenn Janisch an dieser Stelle aber zusätzlich die Merkmale der Geeignetheit und Erforderlichkeit (einer Maßnahme) einfordert, muss man nicht besonders streitlustig sein, um seine Doppelungen zu hinterfragen. Das Abwägen mittels zwei Schalen entspricht dem Alltag biblischer Marktstände. Wie soll denn nun solches Abwägen mit drei oder gar mit sechs Waagschalen funktionieren?  

Wie könnte Janisch in seiner dreifaltigen Begrifflichkeit denn wohl eine Art vorläufiges Gleichgewicht in seiner Verhältnismäßigkeit erreichen? Abzuwägen hätte er wohl zuerst die Geeignetheit gegen die Erforderlichkeit eines Verhaltens. Danach müsste er abwägen „Geeignetheit vs. Verhältnismäßigkeit“ und schließlich die „Erforderlichkeit vs. Verhältnismäßigkeit“. Wie denn nun die Verhältnismäßigkeit zu einem „zentralen Begriff des Rechts“ (Janisch) werden konnte, ist dann wohl eine ganz andere Geschichte. So liest man erleichtert an anderer Stelle eine einfachere Erklärung: Verhältnismäßigkeit: Durch Abwägen der persönlichen Rechte gegen die Interessen der Öffentlichkeit könnte man am Ende doch zu einem balancierten Verhältnis zwischen persönlicher Einschränkung und öffentlichem Risiko kommen. Dieses Verhältnis muss (Augen-)Maß auf beiden Seiten erkennen lassen.

Verhältnismäßigkeit geht von einem gedanklichen Vergleich zweier unterschiedlicher Messbereiche aus. Deren Verhältnis zueinander ist mittels eines vergleichbaren Maßes festzustellen. Über dieses Maß ist Auskunft zu geben. Das Problem: Mit welchen Maß misst jemand erst die „Geeignetheit“ und danach die „Erforderlichkeit“? Es gibt aber keine vergleichbaren Maßeinheiten? Geht es vielleicht gar nicht um das Maß der beiden zu vergleichenden Qualitäten, um Geeignetheit und Erforderlichkeit, sondern nur um eine rasche Gewichtung? Wenn das der Fall wäre, gäbe es keine saubere Antwort auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Wie könnte dann die Verhältnismäßigkeit, eine diffuse Bezugnahme auf unbestimmte Merkmale, eine wirklich prominente Rolle in unserem Rechtssystem einnehmen?

Das ist wohl verhältnismäßig schwierig zu beantworten!

*Deutsche Industrie Norm





Unser Autor

Ge­org M. Sie­­­ber, Jahr­­­­­gang 1935, ist Di­­­­plom­­­psy­­­­cho­­­­­­lo­­­ge in Mün­­­­­chen. 1964 grün­­­­­de­­t­e er sein In­­­s­­ti­­­­­tut für An­­­­­­ge­­­­­­wand­­­­­te Psy­­­­cho­­­­­­lo­­­­gie, die In­­­­­te­l­­l­i­­­­­genz Sys­­­­tem Tran­s­­­­­­fer GmbH (11 Nie­­­der­­­­­las­s­­­un­­g­­en). Sein per­­­­­­sön­­­­­­li­ch­­es In­­­­­te­r­­­­­es­­­sen­­­­­­ge­­­­­biet sind Schrif­­­­t­­en his­­­­­­to­­­r­­i­sch­­­­er Vor­­­­­­läu­­f­­­er der heu­­­­t­­i­­­gen Psy­­­­­cho­­­­­­lo­­­­­gie, de Fe­­­­de­­r­­­i­­co II., Ma­­­chi­a­­­­vel­­li, Pa­­­l­la­­d­i­o, Í­­ni­­go Ló­­pez de Lo­­­yo­­­la u.a.

Für den fach­­­­­li­ch­­­en Aus­­­­­tausch steht er ger­­­ne zur Ver­­­­­fü­­g­­­ung: 089 / 16 88 011 oder per e­Mail:

Georg.Sieber@IST-Muenchen.de

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