"Ja, das Schreiben und das Lesen ist nie mein Fach gewesen...!"
(Couplet aus der Operette "Zigeunerbaron", Text: Ignaz Schnitzer)
Seit dem 24. Oktober 1885 steht der „Zigeunerbaron“ im Repertoire der Wiener Unterhaltungsszene. Sein Bekenntnis zur orthografischen Lücke überstand alle Rechtschreibreformen, obwohl es später schick wurde, Schreib- und Leseschwächen hinter einem altgriechischen Sichtschutz zu tarnen: „Legasthenie!“ Heute dürfte und sollte man offen von „Leseschwäche“ sprechen.
Aktuelle Prüfungen an berufstätigen Jugendlichen und Erwachsenen lassen befürchten, dass der Anteil der Schreib- und Leseschwachen seit 1900 von rund 4,5 von 10 auf 4,8 leicht zugenommen hat. Zu den Schwachen wurde gezählt, wer beim Erkennen von Wörtern (lesend) und/oder Fehlerschreiben (nach Diktat) den statistischen Fehler-Mittelwert überstieg. Übrigens: Goethe oder Preußens Friedrich würden bei heutigen „Tests“ nicht gut abschneiden, denn die Handschriften dieser sprachlichen Genies beweisen herbe orthografische Auffälligkeiten.
Die Strapazen späterer Schrift- und Schulreformen haben sich aber nicht immer überall für jedermann gelohnt. Die Personalexperten müssten heute davon ausgehen, dass nur jeder zweite Werktätige einigermaßen korrekt schreibt und liest. Das spielt aber in der betrieblichen Praxis wohl keine ernsthafte Rolle mehr. Die b2b-Korrespondenz, der Personalfragebogen und auch die Gebrauchsanweisungen technischer Gerätschaften sind leider für sehr viele Beschäftigte, was jeder zweite Verbandspräsident eine „Herausforderung“ nennen würde. Da helfen manchmal leicht erlernbare copy & paste-Techniken und notfalls auch allwissende Korrekturprogramme, die im Falles des Falles die Ausrede („automatische Korrektur“) mitliefern. Deswegen stößt sich kaum jemand daran, dass der Computer jede gut bezahlte Bürokraft jederzeit in einen Anfänger verwandeln kann, der dann unterhaltsame zwei- bis dreitägige „User“-Seminare besuchen darf.
Die Rechtsberufe bilden da eine so berühmte wie rühmliche Ausnahme: Bereits im Mittelalter nannte man laut Juan Huartes (Baeza) in Spanien und auch im Welschen jedweden Rechtsgelehrten gleich einen „Homme de lettres“. Diese Bezeichnung übersetzte C.G. Lessing 1750 mit „Mann der Schrift“. Solche Anerkennung erwies man weder dem Arzt, noch dem Priester, dem Philosophen und schon gar nicht dem Kaufmann. Es gab allerdings für den Alltagsbedarf den ebenfalls hochgeachteten Stand des Schreibers, den man fallweise mit Korrespondenz und Dokumentation beauftragte. Er brachte das Anliegen seiner Klienten in anmutiger Schrift zu Pergament oder Papier und genoss hohes Ansehen. Sehr viel später wurde er gleichwohl vom Diktat-Fräulein abgelöst, das aber in den 1960-70'er Jahren nach und nach seine Macht an den Computer und dessen Komfortprogramme verlor.
Orthografisches Schreiben und Lesen wurde bis weit ins 19. Jahrhundert die Aufgabe dazu spezialisierter Bediensteter. Die bis in unsere Tage allgemeine Wertschätzung des Schreibens und Lesens hat sich in den heutigen Managementebenen noch erhalten. Das verdanken wir den frühen Bildungsreformen beispielsweise des Hohenzollern Friedrich II. Heute werden orthografisches Schreiben und Lesen zwar nicht mehr ausdrücklich als besondere Leistung geschätzt, sondern gelten als selbstverständlich. Für Schreibfehler und Grammatiksünden müssen sich aber weder Studierende noch Lehrende wirklich schämen. Dergleichen kann man weglächeln. Darum sind rundum schreib- und lesekundige Ärzte wohl so selten anzutreffen wie schreib- und lesesichere Taxi- und Busfahrer, Handwerker oder Kaufleute. So sind Einser-Abitur oder Promotion heute auch kein Elite-Ausweis mehr.
Betreffs der Rechtsberufe behilft man sich ohnehin gern mit den Beobachtungen von Ludwig Thoma (1867-1921), der dem Juristen einen nur „mäßigen Verstand“ bescheinigte. Diese Einordnung ist jedoch nicht so nebensächlich, wie es sich zunächst anhört. Beispielsweise böte die angeblich ansteigende Zahl handwerklicher und logischer Mängel in der gerichtlichen Arbeit genügend Anlass, die fachlichen Lehr- und Arbeitsmittel des homme de lettres rigoros zu überprüfen und umgehend auf den Stand moderner Bildungspraxis zu bringen.
Dies könnte damit beginnen, die so ausgesucht und korrekt gedrechselte Bezeichnung für die Schreib- und Leseschwachen hinter in die Kulissen zu werfen: Ja, jeder „gering Literalisierte“ wäre doch wirklich aller Bildungsbemühungen wert. Die hohe Anzahl von Personen mit leider eingeschränkter Lese- und Schreibfertigkeit gibt aber allzu wenigen Zeitgenossen Anlass zu ernsthafter Sorge. Die Praxis lehrt: „Wir schaffen das“!
Überdies haben wir uns längst an das Paradoxon gewöhnt, dass zwar schriftliche Bitten, Wünsche, Forderungen, auch Rechnungen und sogar Mahnungen dank eines hervorragenden Postwesens mindestens 98% der Adressaten erreichen, dass dann aber nur jeder zweite Adressat das an ihn herangetragene Ansinnen wirklich versteht. Das liegt keineswegs immer an Lesebehinderungen. Denn es fordert beispielsweise niemand von einem behördlichen Absender den Nachweis, dass diese Nachricht verständlich, richtig und praktisch gestaltet war. Die vielen dominanten Schreibtischmenschen haben sich nun mal zu Lasten der Schreib- und Leseschwachen darauf geeinigt, dass der Adressat die übermittelte Information jedenfalls umsetzen müsse. Widrigenfalls dürfe der nur dann auf Vergebung hoffen, wenn er sein Unvermögen medizinisch rechtfertigen und dazu nachweisen könne, diese von ihm dazu vorgelegte Rechtfertigung sei vollauf verständlich, richtig und nachvollziehbar. In der Realität ist praktisch jeder zweite Adressat auf Hilfe angewiesen, wenn er das Spiel mitspielen will. Das hemmt den Durchschnittsbürger schon beim rein gedanklichen Versuch, sich gegen das Lese- und Schreibdiktat des Alltags zu wehren.
Aus der vergeblichen Nutzung einer unverständlichen Mitteilung können sich zahlreiche, aber glücklicherweise meistens harmlose Konflikte ergeben: Die Montageanleitung des Ikea-Schranks, der Beipackzettel zur Grippearznei, das Bedienheft des neuen TV-Gerätes oder die miserabel übersetzte Wartungs- oder auch Reparaturanweisung für die fernöstliche Kfz- oder Heizungsneuheit - die darin steckenden Schadensrisiken sind gewiss nicht immer existenzgefährdend, können aber dem Adressaten erhebliche Selbstzweifel bescheren.
Bis heute gibt es keine gesicherten Erkenntnisse über Anzahl und Intensität der Orientierungs- und Kontaktstörungen, die bei deutlicher Schreib- und Leseschwäche auftreten können, zumal in hoch entwickelten Gesellschaften. Allgemein jedoch sind kontaktbehindernde Sprachbarrieren – passive wie aktive – durchaus bekannt. Die eigene Sprache oder der stark ausgeprägte Dialekt zum Beispiel können zur Distanzierung gegenüber „Fremden“ eingesetzt werden.
So entspricht es auch der Alltagserfahrung, dass zuweilen wichtige Berufsgruppen einen hohen Aufwand treiben, um sich durch besondere Wörter und Logismen gegen ihr Umfeld abzuschotten. Einige dieser Gruppen rechtfertigen dies mit ihrer gemeinsamen beruflichen Tradition. Im Münsterland beispielsweise findet man „masematte“, eine Parallelsprache aus Händlerkreisen. Laut Wikipedia dient sie „zur Abschirmung gegen Außenstehende bei Handel und Geschäft wie auch gegenüber Polizei und Obrigkeit, außerdem als Mittel der Integration untereinander und Ausweis der eigenen Gruppen- oder Milieu-Zugehörigkeit.“ Bereits seit ca.1550 bemühen sich Mediziner höchst erfolgreich um eine scheinbare Fachsprache aus griechischen und lateinischen Wörtern und Silben, zu deren Verständnis sie auch selber ein Fachlexikon, den Pschyrembel, benötigen. Andere, auch neu- berufliche Gruppen nutzen geradezu mutwillig jede sich bietende Möglichkeit, ihre Mitmenschen mit neuen Wortschöpfungen, eigenen Kunstwörtern und fast sinnfreien Begriffen auf Distanz zu bringen, um unter ihresgleichen exklusiv bleiben zu können. Wenn beispielsweise Neuwörter wie Digitalisierung oder Rätselbegriffe wie künstliche Intelligenz verwendet und sogar als gemeinschaftsförderlich wertgeschätzt werden, sollte niemand glauben, es gehe dabei um sprachliche Ertüchtigung. Die bittere Wahrheit: Es geht im Schwerpunkt oft um Blockade- und Distanztaktik.
In der bundesrepublikanischen Gesellschaft gehört es heute zur guten Umgangsform, sich bewusst in lokale Bräuche und Werte zu integrieren. Deutliches Deutsch zu schreiben und zu lesen war auch vor 250 Jahren kein anerkanntes Integrationsziel. Man sprach bei Preußens bei Tisch ungeniert und meist Französisch. In unseren Tagen - von Adenauer bis Kohl – übt man sich in möglichst nichtssagender, weitschweifiger Rhetorik. Wir hatten ein gutes Training darin, Warnungen vor sprachlichem Eigensinn zu ertragen. Ob Dialekt oder auch eine absichtsvoll havarierte Grammatik – leichter lassen wir uns zu Veganern und Nichtrauchern umwandeln, als zu Anhängern einer regelgemäßen Sprache. Die ist allerdings eigentlich „… nie mein Fach gewesen!“
Unser Autor
Georg M. Sieber, Jahrgang 1935, ist Diplompsychologe in München. 1964 gründete er sein Institut für Angewandte Psychologie, die Intelligenz System Transfer GmbH (11 Niederlassungen). Sein persönliches Interessengebiet sind die Schriften historischer Vorläufer der heutigen Psychologie, de Federico II., Machiavelli, Palladio, Ínigo López de Loyola u.a.
Für den fachlichen Austausch steht er gerne zur Verfügung: 089 / 16 88 011 oder per eMail:
Georg.Sieber[at]IST-Muenchen.de
Dieser Beitrag ist erschienen im Newsletter 'Karriere-Jura', den Sie hier abonnieren können.
Copyright:
Karriere-Jura GmbH,
Karriere-Jura.de